Eifersucht

Eifersucht


Der "Bahnhof" ist eigentlich nur eine Haltestelle. Weder gibt es einen Kiosk, noch einen Fahrkartenschalter. Lediglich einen Automaten gibt es. Dafür ist er nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Das Autozeitalter ist so gut wie vorbei, doch die wenigsten merken das. Andrea kann das Auto viel besser nutzen, wenn sie mit unserem kleinen Josef einkaufen geht. Da ist ja die Straßenbahn, heute nur zwei Minuten zu spät.
       Wie viele Leute da schon drin sind! Die wohnen alle noch weiter weg von der Stadt. Jeden Tag verliere ich hin und zurück eineinhalb Stunden durch die alberne Trambahnfahrerei. Dabei hätten wir eine günstige Wohnung zehn Gehminuten vom Büro entfernt haben können. Und kaum teurer. Wenn man die Fahrtkosten noch abzieht, sogar billiger. Dafür im dritten Stock. Klar, daß es Andrea im Erdgeschoß besser gefällt, da muß sie das Kind nicht immer die Treppen hoch schleppen. Dem Kleinen scheint es auch zu gefallen. Er sagt "Garten" zu dem winzigen Stück Wiese hinter dem Haus. Na ja. Mir hat es jedenfalls in der Stadt, wo wir vorher gewohnt haben, besser gefallen. Da konnte ich zu Fuß ins Büro gehen. Leider konnte ich da nicht bleiben, es war einfach nicht mehr genug Arbeit da. Der Abschied ist meinem Chef nicht schwer gefallen. Ich war kaum zwei Jahre da, und ich kam mit den Kunden nicht zurecht. Da hieß es eine neue Stelle suchen. Sechs Monate war ich arbeitslos. Den ganzen Tag zuhause, dauernd das Kind um mich herum, das war nichts für mich. Dann kam das Angebot, leider hier unten im Süden. Nach vierzig Absagen konnte ich nicht guten Gewissens absagen. Zumal das Geld langsam knapp wurde. Die Perspektiven hier sind auch nicht gerade rosig: der Chef ist eher geizig, und die leitenden Positionen sind auf lange Sicht besetzt. Die Arbeitsgruppenleiter sind beide jünger als ich. Hätten sie nicht gerade dringend jemand gesucht, der Erfahrung im Beratungsbereich hat, ich hätte den Job sicher nicht bekommen. Der Umgang mit den Beamten, die uns bezahlen, fällt mir hier eher noch schwerer. Ich verstehe weder den Dialekt, noch die Scherze. Auch nicht die über mich. Als "Nordlicht" habe ich mich noch nie gefühlt. Ich bin genauso Rheinländer wie die. Nur eben von 350 Kilometer rheinabwärts. Und da redet man anders. Bei den Nachbarn ist es ähnlich, die sind freundlich, aber reserviert. Kinder haben solche Probleme anscheinend nicht, und Andrea kennt auch schon zwanzig andere Muttis und Vatis, obwohl wir erst zwei Monate hier sind. Ich bin ja schon ein halbes Jahr länger hier in der Gegend. Der knauserige Hintermeier wollte den Umzug erst nach Ablauf der Probezeit bezahlen. Nun ja, er ist halt Schwabe und wird - eigentlich von allen - "Mc Meier" genannt. So bin ich denn sechs Monate lang tapfer jedes Wochenende vier Stunden mit der Eisenbahn gefahren, um bei meinen Lieben zu sein, und vier Stunden zurück. Was für ein Spaß! Anfangs waren die Wochenenden ja recht aufregend und schienen den körperlichen Aspekt unserer Ehe, der während meiner Arbeitslosigkeit sehr gelitten hatte, zu revitalisieren. Doch nach ein paar Wochen verging das wieder, da gab es eher wieder Müdigkeit und Kopfschmerzen. Seit wir hier sind, ist das irgendwie anders. Nicht, daß jetzt viel mehr läuft. Aber sie ist fröhlich und gut gelaunt. Abends steht immer Obst auf dem Tisch, morgens macht sie mir das Frühstück und beklagt sich noch nicht einmal darüber. Irgendwie habe ich das Gefühl, sie ist froh, wenn ich aus dem Haus bin. Gut, ich bin nicht gerade eine Stimmungskanone am frühen Morgen, aber sie könnte ja auch im Bett bleiben bis Josef wach ist. Annäherungsversuche meinerseits werden jetzt nicht mehr mit Ausreden, sondern ganz direkt abgelehnt: "mir ist heute nicht danach", "ich hab' im Moment wenig Lust drauf" oder was verwandtes. Klar, daß ich nicht scharf darauf bin, mir dauernd eine Abfuhr zu holen.
       Die Leute in der Bahn sehen auch nicht gerade fröhlich aus, ich bin sicher nicht der einzige, den das nervt. Diese elend vielen Haltestellen. Und dieses Gefährt nennt sich Eilzug, weil es hier und da eine ausläßt. Überall Reklame. "Schulze - Joghurt" habe ich jeden Tag zum Mittagessen, da braucht um mich keiner mehr zu werben. Schulze heißt doch auch der Briefträger. Andrea findet ihn nett. Als ich letztens eine Woche frei hatte, habe ich ihn öfter gesehen. Freundlich war er. Vielleicht ein bißchen zu freundlich. Irgendwie hat der mich spöttisch angesehen. Wie jetzt der Mann mir gegenüber. Der scheint sich auch einen Spaß aus meiner Anwesenheit zu machen. Der Briefträger ist noch nicht lange im Ort, heißt es. Andrea erzählt recht oft von dem. Man könnte fast meinen, sie kennt ihn schon länger. Oder sie kennt ihn einfach besser. Er kommt immer morgens, so in einer dreiviertel Stunde. Wenn er nun länger bleibt als zum Ausliefern der Post nötig ist? Das fällt natürlich auf. Allen außer mir. Das würde die gute Laune von Andrea erklären. Josef erzählt in seinem kindlichen Kauderwelsch vom "Bifdäger". Auch er scheint ihn gut zu kennen. Mein Gott, bin ich ein Idiot! Ich quäle mich mit diesen Deppen an der Arbeit 'rum, ich fahre jeden Tag stundenlang mit der Straßenbahn, damit Madame auf dem Lande leben kann, und sie setzt mir Hörner auf. Und so, daß jeder es mitkriegt. Selbst die Schüler tuscheln über mich. Verdammt, jetzt muß ich schwitzen von der Aufregung. Die Temperaturregulierung in diesem Seelenverkäufer funktioniert auch nicht besonders. Ich hätte nicht schlecht Lust, zuhause anzurufen. Aber was sollte das bringen?
       Was sie wohl mit dem Kind machen, wenn sie alleine sein wollen? Wahrscheinlich schläft er dann noch. Ob sie wohl in unser Schlafzimmer gehen? Wohin sonst. Das Bett wird auch öfter abgezogen als sonst. Dieser Typ hinter mir erzählt ein Zeug! Er scheint am frühen Morgen schon betrunken zu sein. Er steigt aus und droht mir mit der Faust. Er lacht.
       Ich könnte einfach zurück fahren. Der Zug fährt eine Schleife und wendet praktisch. Ich wäre zu der Zeit zuhause, wo der Postmann zweimal klingelt. Dann könnte ich den Termin mit Herrn Wolther nicht einhalten. Mc Meier würde toben, mein Ansehen würde noch tiefer sinken. Aber was soll die ganze Schufterei, wenn man zum Narren gemacht wird. Vor allen Leuten.
       Gleich kommt meine Station, ich muß mich rasch entscheiden. Gar nicht einfach, so früh am Morgen. Mir erzählt sie, Zärtlichkeiten am Vormittag könnte sie sich gar nicht vorstellen. Und ich glaube ihr.
       Wir sind da, die letzten Leute steigen aus, die ersten steigen ein. Der Fahrer verschnauft ein wenig und liest in der Zeitung. Wenn er Verspätung hat, kann er das hier ausgleichen. Der denkt sich sicher auch seinen Teil. Sicher meint er, ich hätte sie nicht alle und würde im Kreis herumfahren. Aber so geht es nicht weiter! Komm, Mann, fahr los!
       So rollen wir denn dem "Wohnort" entgegen. Zu dieser Tageszeit bin ich noch nie in diese Richtung gefahren. Scheiß auf Wolther, scheiß auf Mc Meier! Ich will es wissen. Wenn er nicht da ist, bin ich blamiert. "Bist du krank?", wird sie fragen. Dann kann ich noch ein Unwohlsein vortäuschen. Ob ich besonders glaubwürdig bin, weiß ich nicht. Macht aber nichts. Wenn er da ist, bin ich erst recht blamiert. Was mache ich mit ihm? Ich bin kein romantischer Held, und er ist zehn Zentimeter größer als ich. Sicher ist er auch besser in Form - bei dem Beruf. Ich kann mich also nur zurückziehen. Abhauen. Aber wohin? Meine Mutter war von Anfang an gegen Andrea. Josef liebt sie natürlich. Wenn ich zu ihr gehe, wird sie mir sagen, daß sie es schon immer wußte. Das fällt also aus. Peter ist weit weg. Unsere Freundschaft ist nicht mehr so intensiv, seit ich weggezogen bin. Also lieber nicht. Hier kenne ich keinen Menschen. Jedenfalls nicht so gut, daß ich hingehen würde. In dieser Situation.
       Vielleicht bilde ich mir das alles ja auch nur ein. Vielleicht hat sie nach fünf Jahren Ehe einfach keinen Bock mehr auf mich. Ein Adonis bin ich ja nicht gerade. Aber das war ich auch vor fünf Jahren nicht. Und da hatte sie schon mehr Bedarf. Jedenfalls so lange, bis das Kind unterwegs war. Der Kurze ist jetzt zwei Jahre. Ganz schön. Bald kann man vielleicht was mit ihm anfangen. Da vorne ist schon der Bahnhof. Und da steht eine Nachbarin!
       "Guten Morgen, Frau Hauser. Ja, es war mir nicht so gut, da bin ich umgekehrt. - Danke. Auf Wiedersehen."
       Nein, ein Bahnhof ist das wirklich nicht. Die Straße zu unserem Haus steigt etwas an, es ist niemand unterwegs. Hier geht es in den Hof, vor der Haustür steht der Handwagen des Briefträgers.
       Ich öffne die Tür. Mein Herz klopft bis zum Hals.
 
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