Verdammt kalt ist es geworden! Die Saison war viel zu kurz und immer wieder von feucht - kalten
Perioden unterbrochen. Jetzt fällt das Fliegen äußerst schwer, und jeder Tag kann der
letzte sein. Eigentlich immer. Aber besonders, wenn man steif vor Kälte ist und die Koordination
nicht mehr so recht funktioniert. Die zweibeinigen Riesenwesen an meiner Imbißbude
können zwar nicht fliegen, aber mit ihren Vorderbeinen können sie einen leicht erschlagen,
wenn man nicht schnell genug ist. Sicherer wäre es, sich erst am Abend über die Reste
herzumachen, wenn die Zweibeiner weg sind. Doch dann ist es zu kalt, und die blauen Säcke sind
fast leer.
Jetzt gegen Mittag kommt die Sonne heraus. Wie gut das tut! Die Zweibeinigen sind nicht ganz so
aggressiv, wenn die Sonne scheint. Ich werde mich noch ein wenig aufwärmen und dann mein
Glück probieren. Ich weiß nicht, ob Hunger oder Kälte schlimmer ist, beides auf einmal
ist jedenfalls kaum zu ertragen. Langsam wird mir etwas wärmer, einen Flügel kann ich
schon bewegen.
Mist, die Sonne ist wieder hinter den Wolken verschwunden. Wahrscheinlich scheint sie heute nicht
mehr. Das zwingt mich zu handeln, solange ich noch einigermaßen beweglich bin. Die Fliegerei
strengt unheimlich an. Auf meinem üblichen Beobachtungsplatz brauche ich erst einmal eine
Pause.
Auch das noch: Regen! So etwas kann lange dauern. Aber jetzt an die Stehtische zu fliegen wäre
Selbstmord. Die Riesenwesen sind dann zu gefährlich.
So, das ist jetzt das »Gasthaus zur letzten Chance«. Wenn ich nicht schnell etwas zu essen bekomme,
schaffe ich es nicht mehr zu meinem geschützten Nachtquartier bei der Eingangstür des
Hochhauses. Wenn es richtig warm ist, fliege ich hervorragend, jetzt hingegen torkele ich auf ein
Plastikschälchen zu, gerade so als wäre ich in den Himbeergeist gestürzt. Ich kann
nicht so richtig erkennen, was darin ist, ich benötige alle Energie für meine entfernt
flugähnliche Fortbewegung. Oh weh, jetzt muß ich auch noch landen, weil mir die Puste
ausgeht.
Ich sitze neben dem Schälchen. Dem Geruch nach zu urteilen kann ich mit dem Inhalt etwas
anfangen. Anscheinend ist kein Zweibeiner in der Nähe, zum Glück. Kurz verschnaufen,
dann ran an die Beute! Ich hebe ab. Die Aussicht auf Nahrung betäubt den Schmerz. Ich lande
auf dem Schälchen neben der Soßenpfütze. Ich nähere mich der Wurst. In
diesem Moment wird das Schälchen von einem Zweibeiner (wo ist der nur plötzlich
hergekommen?) aufgenommen und weggetragen. Dabei rutsche ich in die klebrige Soße.
Gefangen! Das Schälchen landet in einer blauen Tüte. Einige Artgenossen sind hier drin,
aber sie haben alle ihre eigenen Kämpfe auszutragen, Hilfe ist nicht zu erwarten. Wir sind
überhaupt nicht gerade sozial eingestellte Wesen.
Ausweglos, ich komme von der zähen Brühe nicht los. Die ersten Anstrengungen waren
heftig, aber jetzt habe ich selbst die zappelnde Bewegung zur reinen Wärmeerzeugung
aufgegeben. Das hätte ich nicht tun sollen, weil es nachher, wenn die Tüte abgeholt wird,
eine Möglichkeit geben könnte zu entkommen, wenn auch eine sehr vage. Ich zappele also
noch ein wenig, bis sich die Flügel nicht mehr bewegen lassen. Ich falle in einen
tranceähnlichen Zustand wie jeden Abend. Nur werde ich dieses Mal kaum daraus erwachen.
Also denn: adieu, Imbißbude, genug gelitten!