September

Verdammt kalt ist es geworden! Die Saison war viel zu kurz und immer wieder von feucht - kalten Perioden unterbrochen. Jetzt fällt das Fliegen äußerst schwer, und jeder Tag kann der letzte sein. Eigentlich immer. Aber besonders, wenn man steif vor Kälte ist und die Koordination nicht mehr so recht funktioniert. Die zweibeinigen Riesenwesen an meiner Imbißbude können zwar nicht fliegen, aber mit ihren Vorderbeinen können sie einen leicht erschlagen, wenn man nicht schnell genug ist. Sicherer wäre es, sich erst am Abend über die Reste herzumachen, wenn die Zweibeiner weg sind. Doch dann ist es zu kalt, und die blauen Säcke sind fast leer.
      Jetzt gegen Mittag kommt die Sonne heraus. Wie gut das tut! Die Zweibeinigen sind nicht ganz so aggressiv, wenn die Sonne scheint. Ich werde mich noch ein wenig aufwärmen und dann mein Glück probieren. Ich weiß nicht, ob Hunger oder Kälte schlimmer ist, beides auf einmal ist jedenfalls kaum zu ertragen. Langsam wird mir etwas wärmer, einen Flügel kann ich schon bewegen.
      Mist, die Sonne ist wieder hinter den Wolken verschwunden. Wahrscheinlich scheint sie heute nicht mehr. Das zwingt mich zu handeln, solange ich noch einigermaßen beweglich bin. Die Fliegerei strengt unheimlich an. Auf meinem üblichen Beobachtungsplatz brauche ich erst einmal eine Pause.
      Auch das noch: Regen! So etwas kann lange dauern. Aber jetzt an die Stehtische zu fliegen wäre Selbstmord. Die Riesenwesen sind dann zu gefährlich. September
      So, das ist jetzt das »Gasthaus zur letzten Chance«. Wenn ich nicht schnell etwas zu essen bekomme, schaffe ich es nicht mehr zu meinem geschützten Nachtquartier bei der Eingangstür des Hochhauses. Wenn es richtig warm ist, fliege ich hervorragend, jetzt hingegen torkele ich auf ein Plastikschälchen zu, gerade so als wäre ich in den Himbeergeist gestürzt. Ich kann nicht so richtig erkennen, was darin ist, ich benötige alle Energie für meine entfernt flugähnliche Fortbewegung. Oh weh, jetzt muß ich auch noch landen, weil mir die Puste ausgeht.
      Ich sitze neben dem Schälchen. Dem Geruch nach zu urteilen kann ich mit dem Inhalt etwas anfangen. Anscheinend ist kein Zweibeiner in der Nähe, zum Glück. Kurz verschnaufen, dann ran an die Beute! Ich hebe ab. Die Aussicht auf Nahrung betäubt den Schmerz. Ich lande auf dem Schälchen neben der Soßenpfütze. Ich nähere mich der Wurst. In diesem Moment wird das Schälchen von einem Zweibeiner (wo ist der nur plötzlich hergekommen?) aufgenommen und weggetragen. Dabei rutsche ich in die klebrige Soße. Gefangen! Das Schälchen landet in einer blauen Tüte. Einige Artgenossen sind hier drin, aber sie haben alle ihre eigenen Kämpfe auszutragen, Hilfe ist nicht zu erwarten. Wir sind überhaupt nicht gerade sozial eingestellte Wesen.
      Ausweglos, ich komme von der zähen Brühe nicht los. Die ersten Anstrengungen waren heftig, aber jetzt habe ich selbst die zappelnde Bewegung zur reinen Wärmeerzeugung aufgegeben. Das hätte ich nicht tun sollen, weil es nachher, wenn die Tüte abgeholt wird, eine Möglichkeit geben könnte zu entkommen, wenn auch eine sehr vage. Ich zappele also noch ein wenig, bis sich die Flügel nicht mehr bewegen lassen. Ich falle in einen tranceähnlichen Zustand wie jeden Abend. Nur werde ich dieses Mal kaum daraus erwachen. Also denn: adieu, Imbißbude, genug gelitten!
 
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