Am Netz

Am Netz


Wenn ich das jetzt aus heutiger Sicht bedenke, dann hat die Sache eine eigenartige Entwicklung durchgemacht. Wir dachten doch, wir wären auf dem Weg zur totalen Freiheit der Daten und Gedanken, weil sich das damals dezentrale Netz scheinbar kaum kontrollieren ließ. Natürlich kannten wir »1984« und den »Großen Bruder«, aber wir glaubten, daß wir den Stecker jederzeit herausziehen könnten und alles wäre wie früher. Wie beschränkt ist doch die Fähigkeit des Menschen, Entwicklungen einzuschätzen und sich seine Zukunft vorzustellen ! Angesichts der Gegenwart möchte ich mir über dieses Kapitel nur ungern Gedanken machen. Wie es jedoch wurde wie es jetzt ist, das kann ich Ihnen erzählen. Ich denke, ich darf behaupten, dabei gewesen zu sein.
       Aus der Vielzahl der Überraschungen, die die Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts für so manchen von uns bereithielt, möchte ich einige willkürlich herausgreifen. In den sechziger Jahren fragte sich ein Fachmann, was denn eine Privatperson mit einem Computer anfangen könnte. Um die Jahrtausendwende hatte dann nahezu jeder so ein Ding, egal ob er damit viel anfangen konnte oder nicht, denn es war ein Statussymbol, ja fast eine Daseinsberechtigung geworden. Man sprach von der »Informationsgesellschaft«, die nun die Industriegesellschaft ablösen würde, da wollte man natürlich nichts verpassen. Die Geräte waren mittlerweile klein und billig geworden. Für den Netzanschluß war man bereit, vergleichsweise viel Geld zu bezahlen, ebenso für die Nutzung der Leitungen. Unter uns Oldtimern ist das eine gern erzählte Anekdote, die ja nach Stimmung Gelächter oder Entsetzen hervorruft.
       Eine weitere Überraschung war für mich der plötzliche Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus im Osten Europas. Das war gewissermaßen das Signal für die Herren der Wirtschaft, allen sozialen Ballast über Bord zu werfen und sich der Anfänge des Kapitalismus zu besinnen, der ja nun im Duell der Systeme den Triumph durch Kapitulation des Gegners davongetragen hatte. Das war besonders gut in Deutschland zu beobachten, wo ja ein kleiner gescheiterter Staat einem großen siegreichen mit vielen Worten und wenig Taten einverleibt worden war. Mit Verachtung schaute man im Osten auf die Leute, die das neue Spiel nicht schnell genug mitspielen konnten oder wollten, die Verschärfung der Gesetzmäßigkeiten war aber auch manchem im Westen zuviel. Die Reichen wurden immer reicher, die Armen immer ärmer, aber anstelle einer Renaissance des Sozialismus gab es nur den Rückzug in die private Resignation oder kriminelle Gewalt als Reaktion. Das hatte damit zu tun, daß die Menschen den Sinn für das Gemeinsame längst verloren hatten. Vom eindimensionalen Egoismus weicht man im Kapitalismus nur ab, wenn einem das vermeintliche Gemeinwohl noch mehr einbringt als das vordergründig persönliche Interesse. Man benutzt andere und deren Ideen und Ziele letztlich nur zur Vermehrung des eigenen Kapitals oder der eigenen Macht. Altmodische Ideen von Menschlichkeit, die noch auf Philosophen der Aufklärungszeit oder gar der Antike zurückgingen, glaubte man sich unter den gegebenen Umständen nicht mehr leisten zu können. Politik wurde längst von den Mächtigen der Wirtschaft gemacht. Sie hatten für viele Jahre einen Kaspar zum Regierungschef gemacht, der so aussah wie viele von ihnen und nach ihrer Pfeife tanzte wie ein Zirkusbär. Groteskerweise wurde diese Witzgestalt alle paar Jahre durch eine sogenannte Wahl von allen Erwachsenen mehrheitlich im Amt bestätigt. Ähnliche Spiele veranstaltete man für diverse andere Körperschaften, aber der freie Wille, wenn es ihn je gegeben hatte, gehörte zu einer längst vergangenen Zeit. Sobald man die Sache etwas besser im Griff hatte, schaffte man dieses anachronistische Ritual ab, und nicht wenige empfanden Erleichterung bei dem Verlust der scheinbaren Verantwortung. Doch jetzt greife ich schon in unser Jahrhundert vor.
       Für die Vielzahl hoffnungslos veralteter Begriffe in meinem Bericht möchte ich mich an dieser Stelle entschuldigen, aber angesichts meines Alters fällt es mir sehr schwer, meinen Sprachgebrauch noch auf die heutzutage übliche Restsprache umzustellen. Wenn ich es versuche, um mich meinem Enkel verständlich zu machen, verfalle ich doch bald wieder in mein »Opa - Babbel«, wie der Junge das nennt. Trotzdem hört er mir bisweilen gerne zu, vielleicht gerade weil ich so altmodische Ausdrücke verwende. Das ging mir seinerzeit mit meinen Großeltern ganz ähnlich. Daß der Junge überhaupt zu mir kommt in meine Zelle, ist schon erstaunlich. Unter seinen Altersgenossen ist das wohl ziemlich verpönt, aber darüber setzt er sich hinweg, so wie ich mich auch über viele Vorurteile meiner Zeit hinweg gesetzt habe. Jedenfalls weiß ich nicht, ob ich ohne den Jungen noch die Kraft dazu hätte, die Leere meiner Existenz mit Inhalt zu füllen. Nur von Erinnerungen allein kann man wahrscheinlich nicht leben. Doch zurück zu denselben.
       Das Jahr 2000 wurde von den meisten Leuten mit Spannung erwartet. Die Willkür von sogenannten glatten Zahlen war mir als Naturwissenschaftler natürlich klar, aber auch ich ließ mich nicht wenig von der Aufregung anstecken. Alle möglichen Namen und Begriffe trugen die magische Zahl in sich, und noch im Jahre 1995 war es einigen nicht zu platt, von ihrer Vision für das Jahr 2000 zu sprechen. Ich war damals im sogenannten Medienbereich tätig und nahm Aufgaben war, die heute zur öffentlichen Informationsverwaltung gehören. Mein damaliger Arbeitgeber war allerdings eine nicht - öffentliche Gesellschaft. Das Netz war ein loser Zusammenschluß zahlreicher kleinerer Einheiten und schickte sich gerade an, das populärste Kommunikationsinstrument zu werden. Deshalb konnte mein Chef unsere Dienstleistungen gewinnbringend anbieten, obwohl die Wirtschaft insgesamt längst auf dem absteigenden Ast war. Aus diesem Grund hatte ich auch einige Jahre zuvor aufgehört, in einem Bereich zu arbeiten, der schon nach damaliger Einschätzung als anachronistisch zu bezeichnen war. Jetzt halfen wir unseren lieben Mitmenschen, freiwillig Teil eines Netzwerkes zu werden, von dem heute so manch einer gerne loskäme. Man diskutierte Begriffe wie »Datenschutz« und »Zugangsbeschränkung«, kurz man versuchte, die Werte der alten Zeit auf die neue zu übertragen, ein unmögliches Unterfangen. Aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts wußte man, daß Information Macht bedeuten kann, und fürchtete sich vor Bespitzelung. Wie berechtigt diese Bedenken waren, ist heute völlig klar. Damals schwankte man zwischen Fortschrittsglaube und Fortschrittsangst, aber die Neugier überwog dann doch. So kam das ominöse Jahr heran, ohne daß sich etwas erkennbares ereignete. Die Jahrtausendwende wurde zur Riesenenttäuschung. Zwar gab es viel Trara und Reden und Erklärungen und Aktionen - selbst ich, der Skeptiker, hatte mir einiges vorgenommen für mein zweites Jahrtausend - doch im Grunde genommen war das alles heiße Luft. Es ging noch eine Weile so weiter wie bisher mit technischen Verbesserungen und einem Leben wie man es kannte. Doch die wirtschaftlichen Schreckensmeldungen häuften sich. Mit den großen Firmen ging auch das Sozialversicherungssystem zum Teufel, jetzt ging es endgültig um die nackte Existenz. Sozialen Frieden gab es nun nicht mehr. Die Reichen konnten sich selbst mit noch so vielen Sicherheitskräften nicht mehr gegen die plündernden Massen zur Wehr setzen. Nach kurzer Zeit waren viele Errungenschaften der Zivilisation Geschichte. Jetzt war die Zeit reif für Demagogen. Rundfunk und Fernsehen gab es noch, wenn auch nicht für jeden einzelnen, sondern bevorzugt auf öffentlichen Plätzen. Und unser gutes altes Netz bestand noch, die Plünderer hatten es geschont, vielleicht aus gleichsam religiösen Motiven. Deswegen konnte ich irgendwie meine Arbeit fortsetzen.
       Wie es nun dem Informator gelang, die Kontrolle über das Netz zu bekommen, ist nicht ganz einfach zu erklären. Ehrlicherweise muß ich zugeben, daß ich nicht alles mitbekommen und einiges auch infolge der manipulierten Geschichtsschreibung vergessen habe. Jedenfalls ging es unerhört schnell. Er war ein zielstrebiger junger Mann, der die Zeichen der Zeit erkannt hatte und sich nun anschickte, Kapital aus diesem Wissen zu ziehen. Und die ziellose Menschheit gierte nach einem starken Mann, der wieder Ordnung herstellen konnte, auch wenn er aus der Plündererszene kam. So konnte erst eine kleine entschlossene Truppe um sich scharen, Spezialisten für Kampf und Propaganda. Kurz nach den Rundfunkstationen bekam der Informator das Netz in seine Gewalt. Er organisierte es so um, daß es sich von seinem Hauptquartier aus steuern ließ. Nun gab es Programme für Aufbau und Beschäftigung, aber nur für vernetzte Artgenossen. Wer sich dem Netz zu entziehen versuchte, stand sofort außerhalb der Gesellschaft. Von wegen einfach den Stecker herausziehen ! Durch technische Tricks ist es möglich festzustellen, wer am Netz ist und wer nicht. Die technischen Voraussetzungen zur Überwachung der Leute mithilfe des Netztes waren alle schon da, man mußte sie nur geschickt nutzen. Ich erhielt ein Angebot, für die öffentliche Informationsverwaltung zu arbeiten, konnte es aber ablehnen, wenn auch unter Schwierigkeiten. Ich war da schon nicht mehr der jüngste und kannte einen Arzt, der mir eine Bescheinigung ausstellte. So blieb mir der Lügenbetrieb erspart. Dafür habe ich jetzt diese Zelle. Drei mal vier Meter. Über die Nahrung sprechen wir besser nicht. In meiner Jugend hatte ich einmal einen Hund, nach dessen Futter würde ich mir heute die Finger lecken. Ach, ich will mich nicht beschweren wie die alten Leute meiner Jugend, daß früher alles besser war, ich habe es doch noch gut im Alter gemessen an so vielen anderen. Ich habe einiges in meine Zelle schmuggeln können, was mir das Leben verschönert. Wie meinen Laptop ohne Netzanschluß, auf dem ich jetzt heimlich diese Erinnerungen tippe. In der Nacht. In einem Winkel meines Kerkers, der von der Kamera nicht gut erfaßt wird. Mein Augenlicht reicht gerade noch dafür. Sollen sie mich ruhig erwischen. Sie halten mich ohnehin für einen wunderlichen alten Spinner, vielleicht komme ich ohne Bestrafung davon. Außerdem versteht kaum einer mehr meine Sprache. Aber mir tut es gut, meine Erinnerungen aufzuschreiben, um die Ereignisse zu verarbeiten. Egal, ob das jemals einer liest.
 
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