Rudolph
hatte eine junge Frau kennengelernt, die auf einem Amt
arbeitete. Wohl wußte er ihren Namen, nicht aber ihre Adresse, dafür den Namen der
Behörde. Als er nun eines Tages vom Bäcker kommend und ein Brot lose in der Hand
haltend am Verwaltungsgebäude vorbeikam, erinnerte er sich ihrer und beschloß, sie zu
besuchen. Er betrat das hohe Haus durch den Haupteingang. In einem schalterartigen Verschlag
saß eine sehr dünne und auffallend bleiche ältere Frau und häkelte. Rudolph
raffte seinen gesamten Mut zusammen und fragte nach der besagten Behörde. Junger Mann, die
Zeit des Publikumsverkehrs ist seit - sie sah auf eine in der Eingangshalle hängende altmodische
Uhr mit römischen Ziffern als
Stundensymbole - vier, nein viereinhalb Stunden vorüber, seien Sie so gut und kommen Sie an
einem anderen Wochentag zwischen siebenuhrfünfundvierzig und zwölfuhrfünfzehn
wieder. Rudolph fühlte sich schuldig. Für einen Augenblick stand er staunend da. Er
überlegte kurz, während Blut sich in seinen Wangen sammelte. Es ist, stammelte er, privat,
nicht dienstlich. Die Türwächterin musterte ihn streng : Private Dinge haben in diesem
Hause nichts zu suchen ! Gehen Sie, das Gebäude schließt ja in wenigen Minuten. Rudolph
fühlte eine scheußliche Ohnmacht. Er trat auf den Vorplatz hinaus und wartete. Viele Leute
verließen jetzt das Gebäude und strebten lachend dem Feierabend entgegen, einige
Mädchen schauten verstohlen auf Rudolph und kicherten dazu. Gisela war nicht dabei. Als der
Strom der Angestellten und Beamten nachließ, beschloß Rudolph, immer noch sein Brot
festhaltend, an einem anderen Tag - zur Zeit des Publikumsverkehrs - wiederzukommen und ging nach
Hause.
In dieser Nacht schlief er schlecht. Er sah sich mit einem
riesigen Brot in der Hand vor dem Häuschen einer buckligen Hexe stehen, die
Türwächterin des Verwaltungsgebäudes, einige Beamte und Gisela umringten ihn.
Die Hexe rief : er will zum Grundstücksamt! Alle lachten. Warum nicht zur
Bäckerbehörde, höhnte die Türwächterin. So ein Tolpatsch, rief Gisela und
schüttelte sich vor Lachen, worauf er schweißgebadet aufwachte. Es war zehn Uhr. In aller
Eile erledigte er seine Morgentoilette. Der Weg zum Verwaltungsgebäude dauerte sehr lange, da
er sich mehrfach verlief. Als er es schließlich betrat, saß ein freundlicher Herr unbestimmten
Alters in dem Wächterhäuschen. Nein, diese Behörde befindet sich nicht hier im Haus,
sondern in einem Nebengebäude. Rudolph verstand, wieso er Gisela gestern verpaßt
hatte. Geduldig beschrieb ihm der Herr den Weg. Rudolph dankte und ging zu dem Gebäude,
das er für das beschriebene hielt. Er trat ein und fand einige Bureautüren offen, aber
niemanden darin. Endlich begegnete er einem Wesen, dessen Geschlecht schwer auszumachen war,
und erfuhr, daß es sich um das falsche Gebäude handelte. Als er das
Nachbargebäude betrat, traf er auf das Ende einer langen Schlange von Menschen. Ein
großer kräftiger Mann in bäuerlicher Kleidung hinderte ihn daran, selbiges zu
passieren. Stell dich hinten an, Junge, wie es sich gehört ! Sein Blick duldete keinen Widerspruch,
Rudolph gehorchte. Die Menschen vor ihm trugen Taschen bei sich oder lose Aktenordner. Da er die
Hände leer hatte, fühlte Rudolph sich unwohl. Das vordere Ende der Schlange war nicht zu
sehen. Ab und zu hörte man das Geräusch einer sich öffnenden und gleich wieder
schließenden Türe. Die Zeit verging. Rudolph gewöhnte sich an das Warten. Um
viertel nach zwölf - Rudolph konnte die Tür jetzt sehen, hatte aber noch etwa zehn Leute vor
sich und mittlerweile auch zwei hinter sich - kam ein Mann heraus und verkündete, der
Publikumsverkehr sei nun beendet, man solle gehen. Der große kräftige Bauer murrte, ging
aber wie die anderen. Rudolph stand eine Weile fassungslos. Doch dann faßte er erst sich und
dann einen Entschluß. Er eilte auf die Tür zu. Gerade als er sie öffnen wollte, traten zwei
Frauen aus einer der Nachbartüren. Eine davon war Gisela. Rudolph, wo wollen Sie denn noch
hin? Es ist ja kein Publikumsverkehr mehr! Rudolph schaute sie an wie ein Gespenst, dann gewann er
die Haltung zurück. Gisela, ich wollte Sie wiedersehen. Es war die einzige Möglichkeit. Aber
Rudolph! Ich bin ja verlobt. In Kürze werde ich heiraten. Der Flirt mit Ihnen war eine Art letztes
Aufbäumen, ein Hauch von Torschlußpanik. Bitte verzeihen Sie mir!
Die beiden Frauen gingen lachend davon, ohne Rudolph
einen weiteren Blick zu gönnen.