Zufall?

Er war auf eine merkwürdige Sache gestoßen. Eigentlich machte er sich über Symmetrien von Elementarteilchen Gedanken, aber plötzlich gingen seine Gedanken in eine völlig andere Richtung. Theoretische Physiker sind oft eigenartige Gesellen, deren Füße den Boden nicht immer zu berühren scheinen. Was, wenn der Zufall nur ein Ausdruck für mathematische Inkompetenz wäre? Was, wenn es gelänge, den sogenannten Zufall exakt zu beschreiben, die vermeintlich zufälligen Ereignisse vorauszuberechnen? Er beschäftigte sich damit über ein, zwei Monate, dann hatte er sich gedanklich verhakt. Nun konnte er nur weiterkommen, wenn er sich austauschte. Die Diskussion mußte er suchen. Manchmal hilft es, wenn einer nur zuhört, wie man seine Gedanken entwickelt, und man kommt weiter. In diesem Fall aber war eindeutig eine Person vonnöten, die genug fachlichen Hintergrund hatte, um ihm zu folgen und stimulierende Anregungen zu geben. Gar nicht so einfach, denn unter seinen Kollegen herrschte ein starker Konkurrenzkampf, so daß er kaum genug Vertrauen aufbringen konnte, sich ihnen gegenüber zu erklären. Er war nicht naiv und wußte, daß er einer Sache von ungeheuerlicher Bedeutung auf der Spur war. Mißbrauch der zu erwartenden Ergebnisse konnte schlimme Folgen zeitigen.
      Er erinnerte sich an eine Studienkollegin, in die er sich zwar einst unglücklich verliebt hatte, die ihm aber geeignet schien für sein Problem. Er rief sie an und traf sich zwei Wochen später mit ihr an einem Wochenende, weil sie vorher keine Zeit hatte. Sie mutmaßte einen Vorwand für einen erneuten Annäherungsversuch seinerseits und sah der Sache mit gemischten Gefühlen entgegen. Am Telefon hatte er nur Andeutungen gemacht, und sie glaubte nicht an den wissenschaftlichen Hintergrund seines Besuches. Aber schon am Bahnhof sprudelte er geradezu los mit seinen Überlegungen, im Bus sprach er von nichts anderem, und nach einer Stunde in ihrer Wohnung war sie auf dem Stand seiner Forschung und dachte kaum noch über die Abwehr von ungewollten Zärtlichkeiten nach, viel zu fesselnd war sein Bericht. Sie war überaus erstaunt. Zu Studienzeiten schien er kaum interessiert an fachlichen Dingen, tat alles lieber als zu studieren und wunderte sich über ihren Eifer. Daß er das Studium durchstand, überraschte viele, seine Promotion umso mehr. Irgendwie hatte er doch zur Sache gefunden, vielleicht verstärkt durch zwischenmenschliche Probleme. So hatte er diesen Aspekt zurückgedrängt und versuchte, seine unbefriedigenden Lebensumstände durch harte Arbeit zu kompensieren. Während des Studiums hatte er seiner künstlerischen Ader freien Lauf gelassen, dann abrupt damit aufgehört und seine ganze Kreativität in den Dienst der Naturwissenschaft gestellt. Und nun hatte er sich ganz in seine Vision von der Berechenbarkeit des Zufalls ohne Stochastik gesteigert.
      Seine Kollegin überlegte, nachdem sich das Erstaunen ein wenig gemäßigt hatte, wie sie ihm helfen könnte. Seine Ansätze waren natürlich revolutionär, und selbst sie brauchte einige Zeit, um sie hinreichend zu erfassen. Sie diskutierten viele Stunden lang mit hochroten Köpfen, während sie durch den Stadtwald spazierten. Er fuhr dann erleichtert, weil er endlich mit jemandem gesprochen hatte, nachhause, nachdem sie verabredet hatten, sich bald wieder zu treffen. Seine Kollegin traf sich an diesem Abend mit ihrem Freund, mit dem sie erst einige Wochen zusammen war. Man trank einige Flaschen Wein zusammen und begab sich zu Bett. Da sie beim zwischengeschlechtlichen Geschehen nicht so recht bei der Sache war, fragte er sie nach dem Grund. Aufgrund ihrer Verwirrung und ihres alkoholisierten Zustandes erzählte sie ihm mehr als sie eigentlich wollte. Denn schließlich hatte sie der Kollege wiederholt gebeten, seine Überlegungen für sich zu behalten, und sie hatte eingewilligt. Nun, es kam wie es kommen mußte : Der Freund hatte Kontakte zu Leuten, die sich brennend für die Entdeckung interessierten. Diese entführten seine Freundin und ihren Kollegen und versuchten, sie zur Herausgabe der noch unvollständigen Ergebnisse zu zwingen. Als das nicht gelang, wurden die beiden Wissenschaftler gnadenlos liquidiert.
      Man sollte sich also keiner geschwätzigen Kollegin anvertrauen, die einen Freund mit zwielichtigen Kontakten hat!
 
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