Interregio

(Eine merkwürdige Geschichte von Hansrobert Habicht)
Sie hatten sich in diesem Jahr näher kennengelernt. Für diese kurze Zeit waren sie recht vertraut miteinander, als sie die Koffer in die Gepäckablage beförderten. Die Reise war ein spontaner Entschluß gewesen. Sie hatte in der Woche zuvor noch eine Prüfung gehabt, deren Ausgang wie meistens ungewiß gewesen war. Er hatte überraschend doch Urlaub bekommen. So hatten sie jetzt die freudige Gelassenheit, die einen manchmal aufgrund überraschender Ferientage überkommt, und lächelten die Frau, die sie wegen ihrer Platzreservierung von ihren Sitzen vertrieb, noch an. Sie scherzten, als sie die schweren Gepäckstücke zum nächsten Abteil schleiften.

      Erst kam ein Kind, dann noch eins, dann ein drittes, dann der Kinderwagen, schließlich die Mutter mit Anweisungen, wo die Kinder sitzen sollten. Die Kleinen stritten sich sofort um die schmale Gepäckablage als überhöhten Vorzugssitz. Einer der unterlegenen wollte sich daraufhin in den Kinderwagen legen, worauf das kleinste Kind zu weinen anfing und sein Bruder zur Toilette mußte.

      Robert wußte, daß er angesichts der lieblichen Kinderschar nicht wie sonst die zweistündige Fahrt vom Wochendurlaub zur Arbeit verschlafen konnte. Trotzdem versuchte er, sich in eine bequemere Sitzposition zu bringen, um noch etwas vor sich hin zu dösen. Die Frau vor ihm las eine überregionale Zeitung, die Kinder spielten jetzt friedlich und einigermaßen leise. Er dachte an seinen vierjährigen Sohn zuhause bei seiner Frau und schlief ein.

      Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um festzustellen, daß man sich in einem Tunnel befand. Sieht aus als sollte unsere gute Laune auf eine harte Probe gestellt werden, meinte sie mit einem unsichtbaren Augenzwinkern. Ich habe diesen Zwischenhalt organisiert, um dich ungestört küssen zu können, war seine geflüsterte Antwort.

      Die Kinder waren neugierig wegen des überraschenden Halts im Dunkeln, lediglich das kleine hatte ein wenig Angst. Die Mutter beruhigte sie und versuchte erfolglos, das Licht einzuschalten.

      Als Robert die Augen aufschlug war es viel dunkler als in seinem Traum von der glücklich zusammenlebenden Familie. Er griff nach dem Schalter der Leselampe, doch es tat sich nichts. Er hörte das Rauschen der überregionalen Zeitung und empörtes Gemurmel ihrer Besitzerin. Es sah nach Verspätung aus. Sein Chef würde toben: daß er montags später kommen konnte, war ja schon ein Entgegenkommen.

      Die Zeitungsleserin wurde schneller unruhig als die Kinder. Ihr Gemurmel wurde immer lauter, schließlich schrie sie auf und mußte mit mehreren Ohrfeigen auf den Boden der Realität zurückgeholt werden. Eine halbe Stunde war seit dem Anhalteruck vergangen. Die Mutter hatte ihre Lieben tastenderweise zu sich herangezogen. Sie hatten völlig ruhig dagesessen, bis die Schreie der Frau zu hören waren. Jetzt weinten sie alle drei, die Mutter ließ sie gewähren, am liebsten hätte sie mitgeweint.

Interregio

      Aussichtslos, alle Türen sind blockiert, keine Lampe funktioniert, genauso wenig die Lautsprecheranlage. Nachdem das Liebespaar zehn Minuten lang Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte, hatte der Mann sich auf einen Rundgang begeben und gab nun das beunruhigende Ergebnis bekannt. Alle Abteiltüren waren jetzt offen, ebenso die schmalen und flachen Fenster auf dem Flur. Robert hatte seine Hand aus dem Fenster gehalten und konnte die Tunnelwand fühlen. Ebenso auf der anderen Seite. Was für ein merkwürdiger Tunnel ! So etwas gab es doch an der Strecke nicht, schließlich fuhr er sie ja zweimal die Woche. Er behielt diese Erkenntnis für sich und überlegte, daß es keinen Zweck hätte, gewaltsam aus dem Waggon auszubrechen. Der Tunnel war eng, und der Zug konnte jederzeit losfahren.

      Die Luft im Zug war jetzt – nach mehreren Stunden Tunnelaufenthalt – sehr schlecht. Die Passagiere keuchten und schwitzten unsichtbar vor sich hin. Die Kinder schliefen, die Zeitungsfrau war bewußtlos, die Mutter und das Liebespaar waren kurz davor. Robert wurde klar, daß wahrscheinlich keiner von ihnen den Zug lebend verlassen würde. Wieder kam ihm sein Sohn in den Sinn. Am Abend zuvor, als Robert ihn ins Bett brachte, hatte er ihm erzählt, wie sehr er sich jedes Mal auf Papas freitägliche Heimkehr freue. Und jetzt das!

      Der Zug setzte sich zögernd in Bewegung. Die Passagiere waren alle ohne Bewußtsein. Ganz langsam rollten die Ränder zunächst. Robert spürte die Bewegung, aufgrund der Sauerstoffknappheit war die Wahrnehmung jedoch sehr verschwommen. Der Zug wurde jetzt immer schneller. Als sie den Tunnel verließen, gab es ein zischendes Geräusch. Das Licht erschien nach der langen Dunkelheit unerträglich hell. Einer nach dem anderen öffnete die Augen, um sie sofort wieder zu schließen. Langsam gewöhnten sich die Augen an die veränderte Situation. Die Kinder jauchzten wegen der rasanten Fahrt, auch die Erwachsenen waren in einer Art Rauschzustand. Bäume, Häuser, Tiere flogen an den Fenstern vorbei. Da verließ der Zug die Schienen.

      Die Wagen kippten nicht um. Robert fragte sich, wieso man dann überhaupt Schienen bräuchte. In der Ferne tauchte eine große Mauer auf, der sich der Zug mit immer größerer Geschwindigkeit näherte. Als sich der erste Wagen des Geisterzuges in die Wand bohrte, wachte Robert auf. Der Zug stand in einem Bahnhof. Er war naß geschwitzt.

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